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Beobachtungen ... ohne Kaffee

Das Pfand in meiner Hand

Das Pfand in meiner Hand … Foto Doris Behm

Voll daneben ist auch vorbei

„Aber so war das doch nicht gemeint!“

Insa riss den linken Arm hoch in einer beschwichtigenden Abwehrbewegung, die Hand flach nach vorn gestreckt, als wollte sie Fabian wegdrücken. Oder streicheln. Es kam vermutlich darauf an, von welchem Blickwinkel aus man die Lage betrachtete, welchen Standpunkt man einnahm. Aber wie auch immer Insas Haltung zu deuten war und selbst wenn zutraf, dass sie nichts weiter als den Versuch darstellte, Fabian festzuhalten (was nicht zutraf), war es ohnehin zu spät: Fabian war längst fort. Er hatte sich umgedreht und war gegangen, wutschnaubend gegangen, wobei er wie so oft das letzte Wort behielt. Nicht einmal die winzige Zeitspanne, die es gebraucht hätte, um das Gesagte noch einmal darzulegen, mit anderen Worten, gönnte er ihr. Fabian ließ sie stehen und da stand sie nun. Insa senkte den Arm, der oben in der Luft keinen Zweck mehr erfüllte. Klatschend schlug ihre Hand auf den Oberschenkel, der Arm baumelte sinnlos daneben. Neben ihr, nicht an ihr. Da liegst du voll daneben mit dem Müll, den du redest!, hatte Fabian geschnaubt, als wäre immer sie diejenige, die alles falsch verstand, es in den falschen Hals bekam, wenn sie miteinander redeten. Insa kicherte. Was für eine Redewendung! Als besäßen Menschen zwei Hälse, in die die Worte hineinfielen, wo sie entweder in die eine oder in die andere Richtung rutschten, bei ihr natürlich grundsätzlich in die falsche, wovon Fabian auszugehen schien, womit er freilich selbst am weitesten daneben lag. Zu einem Gespräch gehörten schließlich immer zwei, sogar ein nüchterner Kopf, wie er Fabian auf seinen doppelten Hälsen baumelte, müsste das doch einsehen. Sie hätte es ihm gern gesagt, aber das ging nicht, er war ja bereits fort. Schon klar: Voll daneben ist eben auch vorbei.

Insa fand das verwunderlich, hatte sie doch stets geglaubt, man könne sich verständigen, wenn man es versuchte. Das Allerverwunderliche bestand freilich darin, dass Insa, lange nachdem sie sich von Fabian getrennt hatte und mit Luise zusammenlebte, genau das Gleiche sagen konnte wie einst zu Fabian und Luise es nie in den falschen Hals bekam, weder in den linken noch in den rechten noch sonst wohin. Fragte Insa dann einigermaßen verblüfft, ob Luise nicht dächte, sie läge wieder voll daneben oder redete Müll, wie Fabian es ihr vorgeworfen hatte, bekam Luise diesen unverständig-glasigen Gesichtsausdruck, bei dessen Anblick Insa umgehend begriff, dass sie solche Fragen, die letztlich nur dem Zweifel an ihr selbst entsprangen, künftig getrost bleiben lassen konnte. Denn wenn Luise auch sonst das meiste, wovon Insa sprach, augenblicklich verstand, für diese Art von Fragen – die Luise freilich als Selbstbezichtigungen bezeichnete – fehlte ihr schlichtweg das Verständnis. Du und ich, wir sind in den Worten unterwegs, sagte sie. Wie kannst du sie da für Müll halten, wo sie doch so wertvoll sind?

Das leuchtete Insa ein. Darum verfolgt sie seitdem eine Angewohnheit, weil sie es nicht vergessen will: Sie bringt die Flaschen, die sie leergetrunken hat, nicht zurück in den Laden, wo sie Pfand dafür bekommen könnte. Sie trägt sie in den Park und stellt sie neben die Mülltonnen, damit ein anderer sie findet, jemand, der größeren Nutzen davon hat. Denn eins ist ihr inzwischen klar geworden: Was dem einen als Müll erscheint, ist des anderen Schatz.

Manchmal denkt sie dann an Fabian. Aber nur selten. Und irgendwann vergisst sie ihn ganz.

(Dagmar Petrick)

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Beobachtungen ... ohne Kaffee

Registrieren bitte

Registrieren bitte … Foto Doris Behm

Wein und Corona

Meine Mutter versteckte früher den Eierlikör in der Anrichte. Wenn sie sich alleine wähnte, gönnte sie sich ein Gläschen. Es war eine wilde Zeit. Wir drei Bälger, so dicht hintereinander, als hätte man uns im Abo bestellt, und der Vater, der ständig auf Achse war und wenn er heimkam, doch das Sagen behielt.

Vielleicht hat sich meine Mama auf diese Weise den Mund gestopft?

Und so drückte sie wohl auch uns einen Keks in die Hand, wenn wir traurig waren, uns ein Kummer quälte. Manchmal hören Kinder dann auf zu weinen, auch wenn der Trost nur oberflächlich sein kann.

Trink noch ein Gläschen Wein, sagen sie auch heute zu mir, wenn ich jammere, dass mir Corona das Leben schwer macht. Wenn mich Sorgen, Zweifel und Ängste anspringen wie breughelsche Dämonen, derer ich mich nicht erwehren kann. Sicher, sie meinen es gut mit mir, doch die Wahl der Worte ist verräterisch. Wenn der Diminutiv für eine große Sache angewendet wird, sollte man hellhörig werden; immerhin enthält Wein bis zu 14 % Alkohol.

Ich schenke mir ein.

Ich schenke mir randvoll ein.

Ich liebe Wein.

Ich bin in einer Weinanbaugegend groß geworden und wenn sie dort auch gutes süffiges Bier brauen, das allerorts getrunken wird, bin ich nie zu Hopfen und Malz konvertiert.

In vino veritas, sagt man, und ich suche auf den Grund meines Glases, das kein Gläschen ist, sondern ein Glas, nach dem Tropfen der Wahrheit dieser Coronatage.

Die Wahrheit lautet schlicht, dass ich manchmal am liebsten alles vergessen würde. Dass ich mir Frieden wünsche und ein bisschen Ruhe. Darum trinke ich. Weil Wein den Puls dämpft und die Sinne vernebelt, bis sie nicht länger aufgespannt sind wie Stahlfedern, kein quecksilbriges Vibrieren, sondern eher das Schnurren einer Katze, die sich sanft auf meinem Schoß zusammenrollt.

(Dagmar Petrick)


Als ich mich am 16. September 2020 mit K. zum Essen traf, erfuhr ich, dass dies der letzte Tag ist, an dem ich in Sachsen-Anhalt meine Kontaktdaten im Restaurant hinterlassen musste. Dank dieser Zettel wurde mir bewusst, wie oft ich ein Lokal aufsuchte.

Zweisamkeit … Foto Doris Behm
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Nerven behalten

Nerven behalten … Foto Doris Behm

Keep calm – go digital

Ruhe geben.

Unterm Mund – und Nasenschutz

verpufft

der letzte Hauch

von Nähe.

(Dagmar Petrick)


gelassen bleiben … Foto Doris Behm
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Galgenbergschlucht

Galgenbergschlucht … Foto Doris Behm

„Alles voller Glas“, sagt das kleine Mädchen. „Ja“, sagt die Mutter, „alles voller Glas“ und nimmt den Hund auf den Arm, damit er sich nicht die Pfoten aufschneidet.


Dreißig Jahre Tag der deutschen Einheit

Tag der deutschen Einheit. Der Mond steht über dem Haus, rund und schön. Ich bringe den Müll raus. Immer bringe ich den Müll raus. Nie haben wir damit aufgehört, Müll zu produzieren, endlose Tüten mit Verpackung und Dosen und den ganzen Rest, das ganze unsortierbare Überbleibsel, das sich beharrlich weigert, von Nutzen zu sein, indem es zum Wertstoff konvertiert, weder gelbe Tonne noch blaue fürs Papier, in keinem Fall Bio.

Ich versenke die Tüte in die Tonne, die schwarze, die den ganzen namenlosen nicht einsortierbaren Rest mit einem Happen verschluckt. Danach stehe ich noch lange und sehe, wie der Mond, der meistens nicht rund und schön ist, aber heute schon, hinter den Hausdächern untergeht.

(Dagmar Petrick)

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Maske im Regen

Maske im Regen … Foto Doris Behm

Vignette vom Tag – Masken vorm Gesicht

Du sagst dies.

Ich sage das.

Ich sehe dich nicht.

Du siehst mich nicht.

Wir sind Spieler in einem Marionettentheater. Wir ziehen unsere Figuren über ein Schachbrett, als könnten wir den nächsten Zug berechnen, den zwölften, den dreizehnten, alle im Voraus. Natürlich stets zum eigenen Vorteil.

Du siehst mich nicht.

Ich sehe dich nicht.

Leg deine Maske ab!

Leg sie vor dir auf das Pflaster.

Wo der Regen sie tränkt.

Bis er die Konturen verwischt.

Wir klarer sehen, wenn wir aufblicken.

Mit geöffneten Augen.

Einander ins Gesicht.

(Dagmar Petrick)

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Pflegekraft 2020

Pflegekraft 2020 … Foto Doris Behm

Azubi

Hat sich dir erst

jener feine scharfe Riss ins Herz gesetzt,

hörst du nicht auf

zu suchen.

Kopftuchbewehrt

spannst du den Muskel.

Dein Blick, nach vorne gewandt,

blitzt voller Trotz.

Du packst es an.

Ich wünsch dir,

dass es gelingt.

Dass du

Zukunft

hast.

(Dagmar Petrick)

Gerne

Ich wäre auch gern so eine. Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr. Das habe ich früher oft gehört. Ist es darum schon zu spät? Während ich meiner Arbeit nachgehe, lerne ich. Bei mir bedeutet das, dass ich schreibe. Während ich schreibe, lerne ich schreiben. Schreibend eröffnen sich mir neue Räume, die ich vorher noch nicht sah: Im Fenster ein Haus, über dem Haus wölbt sich der Himmel, daneben wächst gespiegelt ein Baum. In seinem Schatten spannt sich der Muskel: Azubis gesucht! Ich wäre auch gern so eine, die es beherzt angeht, mutig zupackt. Stattdessen schaue ich janusköpfig vor und zurück zugleich. Doch etliches erkenne ich nicht einmal, wenn ich meine Nase noch so oft darüber halte. Das geht auch nicht. Die Konturen verwischen, die Wolken verändern ihre Gestalt, mal sind sie Schäfchen, dann Luftschlösser. Die Sonne zieht weiter, legt ihren Schatten über die Hausdächer und Fensterscheiben. Schon wandelt sich das Bild, und alles beginnt wieder von vorn.

(Dagmar Petrick)

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Coronabriefe

Siebter Coronabrief

Fatica di scriptura

Ludwigsburg, den 4. Oktober 2020

Liebe Do,

als ich heute Morgen vor meinem Kleiderständer stand und mich fragte, was ich anziehen soll, neigte er sich schief. Die beiden hinteren Stangen kippten gemächlich, fast hätte man glauben können, sie täten es genüsslich, Richtung Boden wie bei einem Kamel, das vor dem Ansturm einer Touristenhorde ergeben in den Wüstenstaub sinkt.

Kurz nachdem ich nach Ludwigsburg gezogen war, hatte ich mir das Gestell aus schwarzem Metall angeschafft, mal so eben nebenbei. Ich hielt das, da sich in meinem Zimmerchen, kaum hatte ich Bett und Schreibtisch aufgestellt und die Regale ringsum mit meinen Büchern gefüllt, kein Platz mehr fand, an dem ich noch einen Kleiderschrank hätte aufstellen können, für eine wunderbare Idee, so herrlich praktikabel ohne jeden emotionalen Schnickschnack.

Damit war es nun auch schon wieder vorbei.

Gänzlich unbekannt ist mir das freilich nicht.

Schon Renaissance und Frühbarock diskutierten im Paragone delle arti das Konzept der Fatica, jene Verausgabung, der schon mal anheimfallen kann, wer sich mit Kunst beschäftigt, wie wir es beide tun, wobei es für mich ohne Belang ist, ob die Erschöpfung körperlichen (del corpo) oder geistigen (di mente) Ursprungs ist, ihre Auswirkung bleibt sich schließlich gleich: Die Augenlider werden schwer, die Finger finden die Tasten nicht länger, schon sinkt der Kopf hernieder und knallt, peng!, auf die Tastatur. eoagiwe4ehdvg<nd<-oaBEPRIN erscheint auf dem Bildschirm. So sieht es aus, wenn der Kopf zum Dichter wird.

Ich gebe zu: Das Bemühen, die eigenen Empfindungen in Worte zu kleiden, überwältigt mich bisweilen. Dann gebe ich auf und schlafe erst mal eine Runde. Mit diesen Gedanken im Hinterkopf sehe ich meinen Kleiderständer mit Milde an. Mir dünkt, ich verstehe ihn. Jedenfalls kann ich es ihm kaum verdenken, dass er meine Kleider nicht länger tragen will. Eines Tages werde ich sie noch vom Boden auflesen. Aber bis dahin hänge ich sie weiter an ihm auf. Wie ich auch weiter schreibe und den Dingen, die ich sehe, und dem, was ich dabei fühle und empfinde, weiterhin die Worte umlege, sie umkleide, als wären Worte Mäntel. Und manchmal, unversehens, wärmen sie sogar. Findest du nicht auch?

Hab es gut an diesem Tag!

Deine Dagmar

Foto Doris Behm

Liebe Dagmar,

wie sich manch widerstrebende Kräfte in den Dingen offenbaren, jeden Tag aufs Neue, finde ich interessant. Jetzt würde mich die Lösung dieses Problems interessieren und eventuell mein Herz wärmen. Je nach dem.

Ich grüße dich herzlich,

deine Do

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Coronabriefe

Sechster Coronabrief

Eigentlich

Ludwigsburg, den 24. September 2020, abends

Liebe Do,

abends schicke ich dir noch … ein Gedicht. Ich wollte eigentlich nachdenken über Mythos, Geschichten am Lagerfeuer, Digitalisierung, Adorno, die Aufklärung, Luhmann, Roland Barthes, Virilio und die Medien. Dann hätte ich dir eine Reflexion zu deinem Foto „Teilt Stories, nicht Corona“ geschickt. Stattdessen bin ich meinen Gefühlen gefolgt. Ein bisschen kalt, ein bisschen warm. Wie diese verrückten Corona-Tage.

Ich grüß dich herzlich

Deine Dagmar

Stacheldraht in Corona-Zeiten

Für dich

Der Igel ist – neben Hund und Rotkehlchen – mein Lieblingstier.

Es gibt einiges, das

für ihn spricht.

Manchmal

muss man eben,

sage ich mir,

seine Stacheln

ausfahren, den

Rückzug antreten.

Manchmal lohnt sich

kein Kampf.

Trüb kriecht es

in die Ritzen und Winkel.

Mich fröstelt.

Seltsam nur, dass mein Winterschlaf

schon einen ganzen Sommer andauert.


Foto Doris Behm
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Coronabriefe

Fünfter Coronabrief

Müll

Ludwigsburg, den 23. September. 2020

Liebe Do,

gestern wurde meine Mülltonne nicht geleert. Und so sitzt der schwere Abfallbehälter noch immer grau und gut gefüllt mutterseelenallein am Straßenrand.

Seit meine Kinder Mitte März plötzlich die Schule verlassen und zuhause bleiben mussten, ging das Leben trotz Corona dennoch weiter. Wir aßen, wir tranken, wir stopften Müll in die Tonne; vermutlich haben wir damals sogar, dergestalt aufs Häusliche zurückgeworfen, noch mehr Abfall produziert. Dabei kamen die tapferen Müllmänner, die ich seit jeher für ihren Dienst bewundere, unvermindert zuverlässig angerollt, während bei mir zumindest jener Teil der Arbeit, der mir den meisten Verdienst einbringt wie Lesungen und Vorträge völlig ausfiel und mir nichts anderes zu tun übrigblieb, als zu schreiben (obwohl mein neustes Buch ebenfalls coronabedingt erst im nächsten Jahr erscheinen wird).

Heute, etliche Wochen später, sieht es kaum anders aus. Noch immer finden keine Lesungen statt, Seminare halte ich, wenn überhaupt, digital. Und wir essen, wir trinken und produzieren weiterhin unseren Müll.

Schwer zu sagen, wohin das führt. Manchmal schnürt es mir die Kehle zu. Es bereitet mir Angst, dass ich mir ein Leben des fortwährenden Konsums bei zeitgleich ausbleibenden Einnahmen bald nicht mehr leisten kann. Wenn dann noch der Mülleimer überquillt, weil ihn niemand leert, wird die zwangsverordnete Inklusion zur Implosion. Fraglich ist, wie das gehen soll, ohne daran zu ersticken.

Dabei kommt mir der Gedanke, dass in Ländern, in denen der Müll in Bergen die oftmals schöne Landschaft verunstaltet, denn vielleicht auch weniger dem mangelnden Bewusstsein für eine Umwelt, die es zu schonen und zu pflegen gilt, geschuldet ist, sondern vielmehr der Armut, die sich solch ein zivilisiertes Luxusgut wie eine funktionierende Müllabfuhr schlichtweg nicht leisten kann.

Selbiges gilt vermutlich auch für Strom und Gas. Auch Wärme und Licht wollen bezahlt sein; es gibt (fast) nichts umsonst.

Eine Psychologin erzählte mir unlängst, manche Klienten könnten ihre Stromrechnung nicht mehr bezahlen und so wachten die Kinder morgens im Dunkeln auf und gingen abends schlafen, ohne das Licht auszuknipsen.

Übrigens ging an diesem Morgen auch bei mir das Licht nicht an. Die Glühbirne in der kleinen Leuchte auf der Veranda, wo ich täglich schreibe, ehe die Sonne aufgeht, brannte durch. Das geschah gleich zweimal hintereinander.

Es ist eine merkwürdige Zeit, wie mir scheint. Sie verlangt mir einiges ab, bis mir ein Licht aufgeht.

Und so grüßt dich herzlich

Deine Dagmar

Foto Doris Behm

Halle, den 3. Dezember 2020

Liebe Dagmar,

als ich an diesem Stillleben vorbei lief, dachte ich: „Wow, hier gab es eine Stichflamme, eine Erkenntnis, einen nachhaltigen Eindruck, eine emotionale Bewegung.“ Wie kommt jemand dazu, eine abgebrannte Streichholzschachtel so gekonnt zu drappieren? Das Bild bewegt mich immer noch.

Herzlich, deine Do

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Coronabriefe

Vierter Coronabrief

Des Teufels Seil

Ludwigsburg, den 22. September 2020, Herbstanfang

Liebe Do,

als ich heute Morgen vom Laufen zurückkam und in die Jägerhofallee einbog, kraxelten zwei Männer auf der Stadtmauer, die die Außenstelle des Bundesarchivs für die Aufarbeitung nationalsozialistischer Verbrechen umgibt. Sie winkten fröhlich zu mir herunter und grüßten mich, aber ich brauchte eine Weile, ehe ich ihren Gruß erwidern konnte, waren die beiden Männer doch damit beschäftigt, einen Stacheldraht (genauer: Nato-Draht) auf dem alten Gemäuer zu befestigen. Dieser Teil der Mauer reicht noch beinahe auf die Anfänge der Stadt zurück (er ist ein wenig jünger als die Stadtgründung) und hat natürlich ebenfalls dazu gedient, ungebetene Besucher fernzuhalten und die Stadt zu beschützen. Aber heute? Zudem bewehrt mit Draht, in dessen geschwungenen Bögen die scharfen Kanten an Rasierklingen erinnern.

Später rief ich beim Archiv an. Ach das, erklärte man mir, irgendwelche Idioten hatten nichts Besseres zu tun, als nachts auf die Mauer zu klettern und Müll in den Hof zu kippen. Darum der Stacheldraht.

Ich hatte Schlimmeres befürchtet, doch lustig finde ich es trotzdem nicht, wenn man Stacheldraht anbringt, um sich abzugrenzen. Gerade in Tagen, da SARS-CoV-2 den Rückzug ins Private zwangsverordnet, trifft es mich, als würde ich mich selbst an den Klingen schneiden. Der Stacheldraht gerät zum Sinnbild einer Zeit, die sich einigelt. Wobei sie in der Introspektion zugleich die Stacheln ausfährt ins Außen.

Es heißt, der Stacheldraht zähle zu den einschneidensten Erfindungen in der Geschichte der Menschheit. An seiner Grenze verendeten in den harten amerikanischen Wintern 1885, 1886 und 1887 Tausende verwilderte Longhorn-Rinder, weil sie vor den eisigen Schneestürmen nicht in wärmere Gebiete fliehen konnten. Und noch heute ergeht es ungezählten Wildtieren, die sich in den mit Stacheln bewehrten Drähten verfangen, ähnlich. Im zweiten Burenkrieg kam der Stacheldraht erstmals gegen Menschen zum Einsatz. Schon 1903 urteilte der britische Offizier Baden Fletcher Smyth Baden-Powell, Stacheldraht könne als eine bedeutende Entwicklung für die moderne Kriegsführung betrachtet werden, es sei höchst wahrscheinlich, dass er in zukünftigen Kriegen umfänglich eingesetzt werde, und in der Tat sind die langandauernden zermürbenden Grabenkämpfe des ersten Weltkriegs undenkbar ohne Stacheldraht. Bis die Menschheit weiteres Kriegsgerät erfand, zum Beispiel den Panzer. Der den Stacheldraht überrollte.

Die indigenen Bevölkerungsgruppen Amerikas nannten den Stacheldraht, der ihren Lebensraums zerschnitt, übrigens Devil‘ Rope, des Teufels Seil.

Ich denke, ich ahne, warum.

Und so grüße ich dich herzlich, wobei ich dir insbesondere heute Weite wünsche bei aller Begrenzung

Deine Dagmar

Foto Doris Behm

Halle, den 3. Dezember 2020

Liebe Dagmar,

die „Weite bei aller Begrenzung“ musste ich ein Weilchen suchen. Dieses Bild trifft es für mich.

Ich grüße dich herzlich, deine Do