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Coronabriefe

Dritter Coronabrief

Pfirsiche am Wegesrand

Ludwigsburg, den 21. September 2020

Liebe Do,

ich möchte dir schreiben, auch wenn kein literarischer Text dabei herauskommt. Doch das Bedürfnis, mich mit dir zu verbinden, ist stark, sodass ich ihm jetzt einfach folge und auf meine Tastatur einhämmere, während nebenan auf dem Herd (die Kinder sind hungrig) das Curry blubbert (zur Veganerin habe ich es noch nicht gebracht).

Heute war ich ein wenig unterwegs, die neue Stadt, in der ich zwar vor etlichen Jahren geboren wurde, die mir dennoch bisher fremd ist, zu erkunden, zwangsläufig, denn ab einem gewissen Alter braucht man Ärzte, die einem bereitwillig die nötigen Rezepte verschreiben, weil man sonst nicht in die Gänge kommt (Hashimoto Thyreoiditis ist eine Krankheit, die auch an Koffeeinmangel erinnern könnte). Also ging ich erst zum Hausarzt. Zudem rückten mit dem Schulanfang, der in Baden-Württemberg weit später liegt als in sexy Sachsen-Anhalt, das ich unlängst verließ, fehlende Hefte und Ordner ins Blickfeld, ich wollte sie schnellstmöglich besorgen, damit auch der Sohn sich nicht sorgt (man kennt das ja, vor den anderen will man nicht dumm dastehen). Auf diese Weise sah ich zwei MacPapers von Innen, denn natürlich hatte der erste die Umschläge für die Schulbücher, die ich brauchte, nicht in der passenden Größe vorrätig; du hast so was sicherlich auch schon oft genug erlebt und ehe man’s sich versieht, hat man drei, vier Läden für dieselbe Angelegenheit abgeklappert. Mit dem Rad, das im Schwäbischen Rädle heißt, ging das aber fix. Ich düste hier hin, düste dorthin und unterbrach die Tour von einem Laden zum anderen für einen kurzen Kaffeehalt in einem der zahlreichen Straßencafés, wo ich bei einer Tasse Café crème in der morgendlichen Sonne meinen Bemühungen, einem winziger als winzigen Minijob an Land zu ziehen, nachging: Ich telefonierte. Corona und eine Scheidung machen es erforderlich, dass ich mich nach anderen Erwerbsquellen umsehe, du wirst es vielleicht verstehen. Vier Telefonate später war ich allerdings nahe daran, das Ganze wieder sein zu lassen, weil ich hätte meinen können, man schickte mich von Pontius zu Pilatus, um meine tarifliche Einordnung zu ermitteln, wobei die Pontiusse und Pilatusse, zugegeben, alle ziemlich nett und zuvorkommend waren, aber es gibt da einfach strenge Vorgaben, an die sie sich zu halten haben, da nützt auch das heftigste Mit-den-Augen-Klimpern nichts. Eine Bevollmächtigung als Lehrerin, was ich nur einmal in meinem Leben kurz als Daseinsform in Erwägung gezogen und dann bereits beim ersten Ausprobieren als Hilfslehrerin in Nordirland an einem protestantischen Mädchengymnasium ob des ewig wiederkehrend Gleichen umgehend wieder verworfen hatte, wäre jetzt durchaus hilfreich gewesen, aber damals schon hatte ich mich letztlich gegen das Unterrichten für das Schreiben entschieden. Erstaunlicherweise und fast könnte man postulieren, dass Gottes Wege unergründlich seien, tönte es nicht so lehrerhaft, oder, profaner geredet, sagen: wer weiß, wozu’s gut ist?, nutzt mir diese Tätigkeit nun aber möglicherweise doch, weil sie mir – möglicherweise – als Berufserfahrung angerechnet wird. Kaum war ich also wieder daheim, forstete ich durch meine alte Dokumente und wurde auch tatsächlich fündig: Ein Brief meiner damaligen Headmistress, kaum größer als ein einzelnes Stück Toilettenpapier, bescheinigt mir, dass ich einmal – lange ist es her – eine Schar aufgeweckter nordirischer Mädchen in Deutsch unterrichtet habe. Oder jedenfalls zu unterrichten versuchte. Ebenso meine kläglichen Versuche wieder zurück in Deutschland und immerhin ein Jahr lang, einer Rasselbande uninteressierter Grundschülerinnen und –schüler Englisch beizubringen. Und das wiederum – in Kombination mit den Schreibwerkstätten, die auch wir beide, du und ich, gemeinsam durchgeführt haben – ergibt eine Anzahl an Jahren, die mich immerhin für eine Entgeltgruppe nach TVöD mit einer gewissen Berufserfahrung qualifizieren. Berauschend ist das nicht, ich hätte dafür wohl auch nicht studieren müssen, aber sage mal einer, ich hätte nichts gelernt, indem ich schrieb. Heureka, ein wenig freute es mich dann schon.

Zugleich ist da etwas anderes: Dein Bild lässt mich nicht los. Das Foto von der blauen Bank vor staubiger Straße begleitet mich, seit du es mir schicktest, auch heute, durch den Tag. Die leere Bank in der Einöde, die Pfirsichdose daneben im Staub. Wie kommt es, dass du dort spazieren gingst? Und natürlich fragt man sich sogleich: Was hat es mit der Dose Pfirsiche auf sich? Wer hat sie leergelöffelt? Um sie alsbald, achtlos, wegzuwerfen? Wer macht so was? Wo ist er, wo ist sie jetzt?

Etwas an dem Foto hallt in mir wider, ein Echo, bei dem sich Bild und Leben nahtlos ineinander fortsetzen – wie Wellen in einem See, wenn ein Stein hineingefallen ist. Als wären die staubige Straße und die leere Dose eine Beschreibung meines inneren Zustands, der vielleicht auch der Zustand vieler ist, eine Art Metapher. Denn vielleicht kennst auch du die Bemühung, dir auf langer Durststrecke die notwendige Stärkung zuzuführen, damit du weitergehst und weitergehst und weitergehst und ankommst, irgendwann. Doch wo? Wegzehrung, die dich stärkt. Doch wozu?

So kommt mir Corona vor. Eine lange, staubige Straße. Mit nicht viel mehr als einer Bank am Wegesrand, kein Ausblick, nirgends. Und einer Dose Pfirsiche. Die ich aufmache und esse, bis ich wieder weitergehen kann. Wie dieser Minijob, mit dem ich – hoffentlich – die nächsten Kilometer überstehe.

Ganz lieb grüßt dich

Deine Dagmar

Foto Doris Behm

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