Des Teufels Seil
Ludwigsburg, den 22. September 2020, Herbstanfang
Liebe Do,
als ich heute Morgen vom Laufen zurückkam und in die Jägerhofallee einbog, kraxelten zwei Männer auf der Stadtmauer, die die Außenstelle des Bundesarchivs für die Aufarbeitung nationalsozialistischer Verbrechen umgibt. Sie winkten fröhlich zu mir herunter und grüßten mich, aber ich brauchte eine Weile, ehe ich ihren Gruß erwidern konnte, waren die beiden Männer doch damit beschäftigt, einen Stacheldraht (genauer: Nato-Draht) auf dem alten Gemäuer zu befestigen. Dieser Teil der Mauer reicht noch beinahe auf die Anfänge der Stadt zurück (er ist ein wenig jünger als die Stadtgründung) und hat natürlich ebenfalls dazu gedient, ungebetene Besucher fernzuhalten und die Stadt zu beschützen. Aber heute? Zudem bewehrt mit Draht, in dessen geschwungenen Bögen die scharfen Kanten an Rasierklingen erinnern.
Später rief ich beim Archiv an. Ach das, erklärte man mir, irgendwelche Idioten hatten nichts Besseres zu tun, als nachts auf die Mauer zu klettern und Müll in den Hof zu kippen. Darum der Stacheldraht.
Ich hatte Schlimmeres befürchtet, doch lustig finde ich es trotzdem nicht, wenn man Stacheldraht anbringt, um sich abzugrenzen. Gerade in Tagen, da SARS-CoV-2 den Rückzug ins Private zwangsverordnet, trifft es mich, als würde ich mich selbst an den Klingen schneiden. Der Stacheldraht gerät zum Sinnbild einer Zeit, die sich einigelt. Wobei sie in der Introspektion zugleich die Stacheln ausfährt ins Außen.
Es heißt, der Stacheldraht zähle zu den einschneidensten Erfindungen in der Geschichte der Menschheit. An seiner Grenze verendeten in den harten amerikanischen Wintern 1885, 1886 und 1887 Tausende verwilderte Longhorn-Rinder, weil sie vor den eisigen Schneestürmen nicht in wärmere Gebiete fliehen konnten. Und noch heute ergeht es ungezählten Wildtieren, die sich in den mit Stacheln bewehrten Drähten verfangen, ähnlich. Im zweiten Burenkrieg kam der Stacheldraht erstmals gegen Menschen zum Einsatz. Schon 1903 urteilte der britische Offizier Baden Fletcher Smyth Baden-Powell, Stacheldraht könne als eine bedeutende Entwicklung für die moderne Kriegsführung betrachtet werden, es sei höchst wahrscheinlich, dass er in zukünftigen Kriegen umfänglich eingesetzt werde, und in der Tat sind die langandauernden zermürbenden Grabenkämpfe des ersten Weltkriegs undenkbar ohne Stacheldraht. Bis die Menschheit weiteres Kriegsgerät erfand, zum Beispiel den Panzer. Der den Stacheldraht überrollte.
Die indigenen Bevölkerungsgruppen Amerikas nannten den Stacheldraht, der ihren Lebensraums zerschnitt, übrigens Devil‘ Rope, des Teufels Seil.
Ich denke, ich ahne, warum.
Und so grüße ich dich herzlich, wobei ich dir insbesondere heute Weite wünsche bei aller Begrenzung
Deine Dagmar
Halle, den 3. Dezember 2020
Liebe Dagmar,
die „Weite bei aller Begrenzung“ musste ich ein Weilchen suchen. Dieses Bild trifft es für mich.
Ich grüße dich herzlich, deine Do