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Erinnerung im Rinnstein

Ludwigsburg, den 5. Oktober 2020

Liebe Do,

heute kommunizierte ein Zettel mit mir.

Du weißt ja, dass ich schon seit langem diese Zettel vom Boden pflücke, sie aufhebe wie verlorengegangene Kinder, die ich adoptiere. Diesmal war es ein schmal zusammengewickeltes Blättchen, kaum größer als das oberste Glied an meinem kleinen Finger, die Seite in mehrfachen Knicken eng aneinander gelegt wie bei einem Schatzkistchen, das eine Kostbarkeit birgt. Dementsprechend sorgfältig entblätterte ich es, erwartungsvoll ob seiner Botschaft, und siehe da, die Frage, die mir dort entgegensprang, hätte, so einleuchtend und klar, nicht treffender sein können: Wo ist dein Hefter?

Ich musste lachen, schallend, ziemlich laut, dass sich Leute nach mir umdrehten, denn der Zettel bringt es auf den Punkt. Als wäre er für mich gemacht, fragt er nach meiner Existenz als Schriftstellerin, ob ich heute meiner Aufgabe nachgekommen bin, so lustwandelnd, ob ich gerade schreibe? Das tat ich selbstverständlich NICHT, ging ich doch spazieren, flanieren gar.

Solche Botschaften liebe ich. Sie kommen klein und unscheinbar daher. Man muss sich nach ihnen bücken, sie im Rinnstein suchen, aus der Gosse sammeln. Dann aber sagen sie etwas Wahres über uns: Der Zettel erinnerte mich daran, dass ich schreiben soll.

Und so grüße ich dich herzlich – inzwischen wieder vom Schreibtisch, an dem ich sitze, an dem ich schreibe. Dir.

Deine Dagmar

PS: Wäre ich allerdings nicht dort entlanggegangen, einem inneren Zwang folgend, der mich gleichsam vom Schreibtisch auf die Straße drängte, urplötzlich, ich hätte auch den Zettel nicht gefunden und wäre botschaftslos geblieben. Zumindest heute. So bedingt eins das andere. Schwer zu sagen, welchem Lebenszustand man wann den Vorzug geben sollte.

Foto: Doris Behm

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