Autor: Dagmar Petrick
Bella
“And I thought maybe it is better to be locked out than to be locked in.”
Virginia Woolf
Bella, außen vor
für Virginia
Wir gehen nicht mehr aus.
Die Gasthöfe haben geschlossen.
Jedes Café, in dem wir einst saßen, die Hände um die
Tassen gelegt, dass sich unsere Fingerspitzen beim
Abstellen sacht streiften, ist zu.
Wir schließen die Läden.
Wir verriegeln die Türen.
Nur Bella, die Schöne, steht
auf der Straße, lehnt an den
Stufen, hält Wacht vor den
Toren, behütet den
Eingang, den Ausgang,
lüftet allenfalls leise lächelnd den
Hut, huscht jemand vorüber,
so eine wie ich, die den Hund an der
Leine hinter sich herzieht, mein einziger
Grund – sollte mich die Polizei fragen – trotz
Ausgangssperre abends nach acht noch im
Freien zu sein (nächtens verleihe ich den Hund an die
Nachbarn, denn die Nächte sind lang.)
Bella, du Schöne, stets bleibst du
außen vor.
Mag sein, dass ich dich früher deshalb bedauerte;
heute beneide ich dich darum.
Prompt höre ich eine andere, die in meinem
Kopf anfängt zu flüstern, Virginia, die fragt, ehe sie mit schweren
Steinen in den Manteltaschen in die Ouse steigt, ob es
nicht besser sei, ausgeschlossen zu werden, als
eingesperrt zu sein, und ich denke, während
Bella den Hut lupft und winkt:
Virginia, es wird dich
kaum trösten, doch
ich denke,
Bella und ich,
wir stimmen dir zu.
(Die Skulptur Bella der Künstlerin Eva-Maria Frey ziert u.a. den Eingang der Tourist-Information in Bad Sooden. Sie ist Botschafterin der Verbundenheit in dreißig hessischen Heilbädern und Kurorten.)
Zugehängt
Weihnachten im Jahr 2020: Abgehängt
Man muss genau hinsehen, viel genauer.
Der Schein der
Leuchter ist Abglanz, der auf eine
Landschaft aus Plastik fällt.
Echtschnee ist Schnee von gestern; heute
erledigen wir das mal eben flugs
digital.
Derweil singt sich der Chor aus dem Laut-
sprecher heiser. Ehre sei Gott in der
Höhe & Frieden den Menschen
auf Erden, wo immer noch
die Züge rollen,
nach Süden,
nach Norden.
Niemand weiß ernsthaft zu sagen,
wohin die Reise geht und ob
in den Abteilen Menschen sitzen, solche
wie du und ich, aus Fleisch & Blut, die man
ANFASSEN kann. (Wir erinnern uns kaum mehr an
Zeiten, da wir einander berührten.)
Es heißt – doch kursieren viele Gerüchte in diesen
Tagen und man munkelt hinter vorgehaltener
Hand: Im Bahnhof von Köthen stehe seit November
ein Zug. Abgehängt auf den Gleisen warte er
wochenlang schon auf grünes Signal.
Ich hoffe inständig,
ruckelt er wieder an, sind die
Weichen richtig gestellt.
Igel, lebend
Ausgangssperre ab acht
Schnell noch
über die Straße gehuscht,
damit niemand
mich sieht,
nicht die Polizei,
nicht der Nachbar, der
vielleicht
auf der Lauer liegt.
Schnell noch
die Vorräte in Sicherheit gebracht,
im Warmen verstaut.
Wer weiß, wie lange
dieser Winter noch
dauert?
Dummes Schaf, päpstlicher als der Papst
„Jetzt bist du aber päpstlicher als der Papst!“,
sagt mein Bruder
und stülpt mir die Redensart über
wie einen Maulkorb, der mich zum
Verstummen bringen soll.
Neu ist das nicht.
Ich war schon:
dummes Schaf.
Taube Nuss.
Jetzt also päpstlicher als der Papst.
Ich kann es nicht lassen:
Ich zwäng meine Schnauze
dazwischen.
Ich nehme den Mund zu
voll.
Ich beiß mir die Lippen
wund.
Ich zerfetz mir die Wangen an Wörtern, die
reißen wie Stacheldraht.
Dummes Schaf.
Taube Nuss.
Jetzt also päpstlicher als der Papst.
(Dabei bin ich schon vor Jahren aus-
getreten aus der Kirche und längst
KEIN SCHÄFCHEN seiner Herde mehr.)
„Nie hörst du!“,
höre ich
oft.
Seien wir mal ehrlich, blicken
den Tatsachen ins
Auge und dem Schaf
ins Gesicht:
Nie höre ich
∞
auf.
Dieses Schaf suchte, kaum hatte es mich entdeckt, meine Nähe. Sein Bemühen, den trennenden Zaun zu überwinden, rührte mich sehr.
Täuschung
Nach der Antwort: enttäuscht
Beim Vorüberstreifen
Wolle gelassen:
Man könnte meinen,
es bereitete Vergnügen,
in Stacheln zu greifen.
Aufgespießt: Sprichwörter und zwei Antworten darauf
Das Schaf trägt sich selbst keine Wolle.
Es ist nicht not, dass man die Schafe frage, die Wolle gilt!
Gott gibt leisen Wind, wenn die Schafe geschoren sind.
Man soll die Schafe scheren, aber nicht rupfen.
Es ist ihm nicht ums Schaf, sondern um die Wolle.
Es ist ein faules Schaf, das die Wolle nicht tragen mag.
Wo der Wolf Schafhirt ist, da geht es nicht bloß an die Wolle, sondern auch ans Fell.
Idem velle atque ide nolle, ea demum firma amicitia est
Dasselbe
WOLLE
n und dasselbe
nicht WOLLE
n, das ist wahre
Freund
SCHAF
t
.
Das ist ein faules Schaf, das
seine Wolle nicht tragen
mag, weil es
sie längst am Stacheldraht ließ.
Fragt sich nur: Wer
spannte ihn
auf?
Wie weit noch?
Verloren
Hinterm Fenster wachsen die Bäume
in mir fallen die Tränen
die Sonne zieht Milch an als Kleid
Schnee deckt uns ein
bis alles versinkt
nichts mehr bleibt
das Sturmgeläut in mir verstummt
Ich warte
warte auf das eine Wort
ob du es mir gibst
ob du zu mir sprichst
oder ob du gleichfalls schweigst
Die Äste schlagen ins Zimmer
Zweige wachsen mir ins Gesicht
Es sind Tannen
Es sind Fichten
Bäume ohne Wurzeln
sie tragen mich nicht
PS: Wir stehen vor dem nächsten harten Lockdown. Wie soll das noch weitergehen?
Zehnter Coronabrief
Tapetenwechsel
Ludwigsburg, den 27. November 2020
Liebe Do,
es fiel mir in den letzten Tagen schwer, mit den Ereignissen Schritt zu halten, und wenn ich auch nie aufgehört habe, zu schreiben, so machte sich doch meinerseits zumindest auf diesen Seiten bei den Briefen ein Schweigen breit. Heute versuche ich es zu durchbrechen – mit einem Gedicht.
Ich grüße Dich herzlich!
Deine Dagmar
Hals über Kopf
Die Malermeisterin hängte die Tapeten auf.
Nun steht der Vogel Kopf,
baumelt häuptlings an den Zweigen
zwischen Granatäpfeln,
Blätter vorm Schnabel,
ein waghalsiger Akt.
Ich will nicht meckern (ich sage es der Malermeisterin nicht),
doch ich frage mich schon,
wie lange hält er es durch, auch wenn
die Welt längst in Schieflage kreist.
Es ist kein Geheimnis,
die Nachrichten verkünden es täglich,
dass manches anders geworden ist.
Man sagt, es sei nützlich bisweilen, die
Tapeten zu wechseln, weil mit dem
Wechsel der Tapeten auch
die Perspektiven sich änderten.
Kunststück, wenn einem
nicht schwindelig wird dabei.
Dichtestress
Schtonirsch! – Interjektion, Kompositum aus dem Kunstwort Schtonk (entnommen der Rede Adenoid Hynkels auf Grammelot in Chaplins The Great Dictator) und dem deutschen Adjektiv unwirsch. Wie bei Interjektionen üblich, ist hierbei besonders auf die Aussprache zu achten; sie fällt im Sinne einer Aufforderung zur Unterlassung energisch und betont aus.
Das Gefühl, das vielleicht nur jenen zu eigen ist, die sich ausdauernd um die Belange anderer drehen, wobei sie diese anderen durchaus lieben, sich aber, ausdauernd und andauernd um die Belange ihrer Lieben drehend, zunehmend an die eigenen Grenzen schrauben, bis sich die Furcht, darüber noch der eigenen Identität verlustig zu gehen, in einen Grenzen setzenden Schrei (Schtonirsch!) entlädt.
Man hat die Knirpse genährt. Sie versorgt und beschirmt. Nun stoßen wir uns die Köpfe. Ihr Wachstum (vgl. Beobachtungen dritter Ordnung: Berührung) reibt sich zunehmend mit der eigenen Entfaltung, die im steten Behüten ohnehin schon des Längeren stagniert. Die urplötzliche Erkenntnis äußert sich in einem ungestümen Schrei, dessen lautmalerischer Klang sowohl auf die Ursache des Protestes (das Knirschen im Getriebe) verweist wie auch seine kathartische Wirkung enthält.
Noch immer …
Keine Lesung: Künstlerin am Rande des Nervenzusammenbruchs
Eichhörnchen überqueren die Straße.
Die leichtfüßigen Gesellen hörten nie auf,
Futter zu sammeln.
Noch ein Versuch – Eichhörnchen
Wieder überquert ein Eichhörnchen
die Straße, buschig und braun und flink
wie der Wind von einer
Bordsteinkante zur anderen und ab
in den Garten dahinter.
Sie lesen die Früchte des Herbstes
auf, unter der Platane, dem Ginkgo, der Eiche
wird es seine Schätze vergraben, sie
sicher wähnen; so viele
sind es, dass es vergisst, wo
sie ruhen.
Eicheln gab es in diesem Jahr reichlich,
während ich nur eine einzige Lesung hatte
in diesem vermaledeiten Coronajahr.