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Beobachtungen ... ohne Kaffee

mobil

mobil … Foto: Doris Behm

Stillstand: alle Jahre wieder (Lockdown)

Blackout-Poetry nach August Heinrich Hoffmann von Fallersleben (Dagmar Petrick)
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Beobachtungen ... ohne Kaffee

Bella

Bella … Foto Doris Behm

“And I thought maybe it is better to be locked out than to be locked in.”

Virginia Woolf

Bella, außen vor

für Virginia

Wir gehen nicht mehr aus.

Die Gasthöfe haben geschlossen.

Jedes Café, in dem wir einst saßen, die Hände um die

Tassen gelegt, dass sich unsere Fingerspitzen beim

Abstellen sacht streiften, ist zu.

Wir schließen die Läden.

Wir verriegeln die Türen.

Nur Bella, die Schöne, steht

auf der Straße, lehnt an den

Stufen, hält Wacht vor den

Toren, behütet den

Eingang, den Ausgang,

lüftet allenfalls leise lächelnd den

Hut, huscht jemand vorüber,

so eine wie ich, die den Hund an der

Leine hinter sich herzieht, mein einziger

Grund – sollte mich die Polizei fragen – trotz

Ausgangssperre abends nach acht noch im

Freien zu sein (nächtens verleihe ich den Hund an die

Nachbarn, denn die Nächte sind lang.)

Bella, du Schöne, stets bleibst du

außen vor.

Mag sein, dass ich dich früher deshalb bedauerte;

heute beneide ich dich darum.

Prompt höre ich eine andere, die in meinem

Kopf anfängt zu flüstern, Virginia, die fragt, ehe sie mit schweren

Steinen in den Manteltaschen in die Ouse steigt, ob es

nicht besser sei, ausgeschlossen zu werden, als

eingesperrt zu sein, und ich denke, während

Bella den Hut lupft und winkt:

Virginia, es wird dich

kaum trösten, doch

ich denke,

Bella und ich,

wir stimmen dir zu.

(Dagmar Petrick)

(Die Skulptur Bella der Künstlerin Eva-Maria Frey ziert u.a. den Eingang der Tourist-Information in Bad Sooden. Sie ist Botschafterin der Verbundenheit in dreißig hessischen Heilbädern und Kurorten.)

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Beobachtungen ... ohne Kaffee

Zugehängt

Zugehängt … Foto Doris Behm

Weihnachten im Jahr 2020: Abgehängt

Man muss genau hinsehen, viel genauer.

Der Schein der

Leuchter ist Abglanz, der auf eine

Landschaft aus Plastik fällt.

Echtschnee ist Schnee von gestern; heute

erledigen wir das mal eben flugs

digital.

Derweil singt sich der Chor aus dem Laut-

sprecher heiser. Ehre sei Gott in der

Höhe & Frieden den Menschen

auf Erden, wo immer noch

die Züge rollen,

nach Süden,

nach Norden.

Niemand weiß ernsthaft zu sagen,

wohin die Reise geht und ob

in den Abteilen Menschen sitzen, solche

wie du und ich, aus Fleisch & Blut, die man

ANFASSEN kann. (Wir erinnern uns kaum mehr an

Zeiten, da wir einander berührten.)

Es heißt – doch kursieren viele Gerüchte in diesen

Tagen und man munkelt hinter vorgehaltener

Hand: Im Bahnhof von Köthen stehe seit November

ein Zug. Abgehängt auf den Gleisen warte er

wochenlang schon auf grünes Signal.

Ich hoffe inständig,

ruckelt er wieder an, sind die

Weichen richtig gestellt.

(Dagmar Petrick)

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Igel, lebend

Igel, lebend … Foto Doris Behm

Ausgangssperre ab acht

Schnell noch

über die Straße gehuscht,

damit niemand

mich sieht,

nicht die Polizei,

nicht der Nachbar, der

vielleicht

auf der Lauer liegt.

Schnell noch

die Vorräte in Sicherheit gebracht,

im Warmen verstaut.

Wer weiß, wie lange

dieser Winter noch

dauert?

(Dagmar Petrick)

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Versuch einer Annäherung

Versuch einer Annäherung … Foto Doris Behm

Dummes Schaf, päpstlicher als der Papst

„Jetzt bist du aber päpstlicher als der Papst!“,

sagt mein Bruder

und stülpt mir die Redensart über

wie einen Maulkorb, der mich zum

Verstummen bringen soll.

Neu ist das nicht.

Ich war schon:

dummes Schaf.

Taube Nuss.

Jetzt also päpstlicher als der Papst.

Ich kann es nicht lassen:

Ich zwäng meine Schnauze

dazwischen.

Ich nehme den Mund zu

voll.

Ich beiß mir die Lippen

wund.

Ich zerfetz mir die Wangen an Wörtern, die

reißen wie Stacheldraht.

Dummes Schaf.

Taube Nuss.

Jetzt also päpstlicher als der Papst.

(Dabei bin ich schon vor Jahren aus-

getreten aus der Kirche und längst

KEIN SCHÄFCHEN seiner Herde mehr.)

„Nie hörst du!“,

höre ich

oft.

Seien wir mal ehrlich, blicken

den Tatsachen ins

Auge und dem Schaf

ins Gesicht:

Nie höre ich

auf.

(Dagmar Petrick)


Dieses Schaf suchte, kaum hatte es mich entdeckt, meine Nähe. Sein Bemühen, den trennenden Zaun zu überwinden, rührte mich sehr.

(Doris Behm)

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Täuschung

Täuschung … Foto Doris Behm

Nach der Antwort: enttäuscht

Beim Vorüberstreifen

Wolle gelassen:

Man könnte meinen,

es bereitete Vergnügen,

in Stacheln zu greifen.


Aufgespießt: Sprichwörter und zwei Antworten darauf

Das Schaf trägt sich selbst keine Wolle.

Es ist nicht not, dass man die Schafe frage, die Wolle gilt!

Gott gibt leisen Wind, wenn die Schafe geschoren sind.

Man soll die Schafe scheren, aber nicht rupfen.

Es ist ihm nicht ums Schaf, sondern um die Wolle.

Es ist ein faules Schaf, das die Wolle nicht tragen mag.

Wo der Wolf Schafhirt ist, da geht es nicht bloß an die Wolle, sondern auch ans Fell.


Idem velle atque ide nolle, ea demum firma amicitia est

Dasselbe

WOLLE

n und dasselbe

nicht WOLLE

n, das ist wahre

Freund

SCHAF

t

.

Das ist ein faules Schaf, das

seine Wolle nicht tragen

mag, weil es

sie längst am Stacheldraht ließ.

Fragt sich nur: Wer

spannte ihn

auf?

(Dagmar Petrick)


„Getarnt“ … Foto Doris Behm

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Wie weit noch?

Wie weit noch? … Foto Doris Behm

Verloren

Hinterm Fenster wachsen die Bäume

in mir fallen die Tränen

die Sonne zieht Milch an als Kleid

Schnee deckt uns ein

bis alles versinkt

nichts mehr bleibt

das Sturmgeläut in mir verstummt

Ich warte

warte auf das eine Wort

ob du es mir gibst

ob du zu mir sprichst

oder ob du gleichfalls schweigst

Die Äste schlagen ins Zimmer

Zweige wachsen mir ins Gesicht

Es sind Tannen

Es sind Fichten

Bäume ohne Wurzeln

sie tragen mich nicht


PS: Wir stehen vor dem nächsten harten Lockdown. Wie soll das noch weitergehen?

(Dagmar Petrick)


lebe … Foto Doris Behm
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Coronabriefe

Zehnter Coronabrief

Tapetenwechsel

Ludwigsburg, den 27. November 2020

Liebe Do,

es fiel mir in den letzten Tagen schwer, mit den Ereignissen Schritt zu halten, und wenn ich auch nie aufgehört habe, zu schreiben, so machte sich doch meinerseits zumindest auf diesen Seiten bei den Briefen ein Schweigen breit. Heute versuche ich es zu durchbrechen – mit einem Gedicht.

Ich grüße Dich herzlich!

Deine Dagmar


Hals über Kopf

Die Malermeisterin hängte die Tapeten auf.

Nun steht der Vogel Kopf,

baumelt häuptlings an den Zweigen

zwischen Granatäpfeln,

Blätter vorm Schnabel,

ein waghalsiger Akt.

Ich will nicht meckern (ich sage es der Malermeisterin nicht),

doch ich frage mich schon,

wie lange hält er es durch, auch wenn

die Welt längst in Schieflage kreist.

Es ist kein Geheimnis,

die Nachrichten verkünden es täglich,

dass manches anders geworden ist.

Man sagt, es sei nützlich bisweilen, die

Tapeten zu wechseln, weil mit dem

Wechsel der Tapeten auch

die Perspektiven sich änderten.

Kunststück, wenn einem

nicht schwindelig wird dabei.


Zuversicht … Foto Doris Behm
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Beobachtungen ... ohne Kaffee

Dichtestress

Dichtestress … Foto Doris Behm

Schtonirsch! – Interjektion, Kompositum aus dem Kunstwort Schtonk (entnommen der Rede Adenoid Hynkels auf Grammelot in Chaplins The Great Dictator) und dem deutschen Adjektiv unwirsch. Wie bei Interjektionen üblich, ist hierbei besonders auf die Aussprache zu achten; sie fällt im Sinne einer Aufforderung zur Unterlassung energisch und betont aus.

Das Gefühl, das vielleicht nur jenen zu eigen ist, die sich ausdauernd um die Belange anderer drehen, wobei sie diese anderen durchaus lieben, sich aber, ausdauernd und andauernd um die Belange ihrer Lieben drehend, zunehmend an die eigenen Grenzen schrauben, bis sich die Furcht, darüber noch der eigenen Identität verlustig zu gehen, in einen Grenzen setzenden Schrei (Schtonirsch!) entlädt.

Man hat die Knirpse genährt. Sie versorgt und beschirmt. Nun stoßen wir uns die Köpfe. Ihr Wachstum (vgl. Beobachtungen dritter Ordnung: Berührung) reibt sich zunehmend mit der eigenen Entfaltung, die im steten Behüten ohnehin schon des Längeren stagniert. Die urplötzliche Erkenntnis äußert sich in einem ungestümen Schrei, dessen lautmalerischer Klang sowohl auf die Ursache des Protestes (das Knirschen im Getriebe) verweist wie auch seine kathartische Wirkung enthält.

(Dagmar Petrick)

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Beobachtungen ... ohne Kaffee

Noch immer …

Noch immer … Foto Doris Behm

Keine Lesung: Künstlerin am Rande des Nervenzusammenbruchs

Eichhörnchen überqueren die Straße.

Die leichtfüßigen Gesellen hörten nie auf,

Futter zu sammeln.


Noch ein Versuch – Eichhörnchen

Wieder überquert ein Eichhörnchen

die Straße, buschig und braun und flink

wie der Wind von einer

Bordsteinkante zur anderen und ab

in den Garten dahinter.

Sie lesen die Früchte des Herbstes

auf, unter der Platane, dem Ginkgo, der Eiche

wird es seine Schätze vergraben, sie

sicher wähnen; so viele

sind es, dass es vergisst, wo

sie ruhen.

Eicheln gab es in diesem Jahr reichlich,

während ich nur eine einzige Lesung hatte

in diesem vermaledeiten Coronajahr.

(Dagmar Petrick)