Go home -Teil Stories, nicht Corona!
Die ersten Geschichten entstanden im Dunstschein eines Lagerfeuers. Nach der Jagd. Nach dem Beerensammeln. Gemeinsam. Davon bin ich überzeugt. Der Mythos verhandelt die Dinge, die sich nicht begreifen lassen: Sonne, Mond und Sterne, der Wechsel der Jahreszeiten. Ihre in aller unberechenbaren Wandlungsfähigkeit unheimliche Gestaltlosigkeit wird gebannt im Wort, das dem Formlosen Form verleiht. Sprache besänftigt die Dämonen, indem sie sie benennt. Aber auch der Kampf mit dem Säbelzahntiger, die Geburt eines Kindes, Eifersucht, Streit und Freude kamen hier zur Sprache, wurden geteilt. Ich glaube nicht, dass sich unsere Emotionen grundlegend verändert haben durch die Jahrtausende. Sie sind der Urquell allen Erzählens, und alles Erzählen zielt auf Mitteilung und so stelle ich mir vor, wie unsere Vorfahren dicht an dicht beieinander saßen, um erzählend den Mysterien des Seins nachzuspüren.
Schreiben als Kulturtechnik verläuft anders, es ist ein einsames Geschäft und dem mündlichen Erzählen nachgelagert. Doch auch Schreiben zielt auf Teilhabe „Schreiben heißt antworten, ohne gefragt zu sein“, sagte Christian Mocker. Was aber tun, wenn es kein Ohr mehr gibt, das hört?
Der Aufruf, digital zu gehen und die eigene Befindlichkeit überall und jederzeit in die scheinbar grenzenlose Welt des Worldwideweb hinauszuklicken, negiert die Notwendigkeit eines hörenden Ohrs, das empfängt. Wer diesem Aufruf bedingungslos folgt, zieht sich zurück auf den Status des Allwissenden, der ohne Hörer auskommt, eines Senders, der den Empfangenden ignoriert. Wo ein PC, ein Smartphone, geht man flugs viral. Man teilt. Und teilt doch nicht. Denn Teilen hieße, ich gebe ab von dem, was ich habe, und sehe und höre, wie du empfängst, und ich erlebe es mit allen Konsequenzen. Denn auch dem Heiligen Martin wird es schwerer gefallen sein, sich warm zu halten auf seinem hohen Ross, nachdem er seinen Mantel in zwei Teile schnitt. Das heißt allerdings noch lange nicht, dass der Teilende leer ausgeht, man denke nur an jenen wunderlichen Vorfall, von dem die Bibel berichtet, als von fünf geteilten Broten und zwei Fischen am Ende so viel mehr übrigblieb, als anfänglich vorhanden war. Körbe wurden eingesammelt und übervoll nach Hause geschleppt. Die Menschen waren satt, aber auch erfüllt, sie hatten an Einsicht gewonnen: Wo ich befürchte, zu wenig zu haben, dass es nicht für andere langt, erhalte ich durch Teilen mehr.
„Teilt Stories, nicht Corona“ schickt uns zurück in die Häuser noch vor der teilenden Erfahrung, die das Geteilte multipliziert. Es verlangt, dass wir unsere Geschichten in den Winkeln des Privaten suchen und aus der Isolation heraus erzählen, wobei sich zwar per einfachem Mausklick jeder Satz und jedes Bild in Sekundenschnelle unbegrenzt in alle Welt verbreiten lässt. Doch ist geliked noch lange nicht geteilt, und ob wir davon satt werden, bleibt auch fraglich. Denn das Bedürfnis, sich die Mysterien des Lebens erzählend gegenseitig zu erklären, besteht unvermindert fort. Ich jedenfalls suche noch immer in den Gesichtszügen meines Gegenübers eine Reaktion auf Dinge, die ich sage oder schreibe, auch wenn die Zeiten, da uns der flackernden Schein des Lagerfeuers die Empfindungen der anderen auf das Gehörte widerspiegelte, unwiederbringlich vorüber zu sein scheinen.
Teilt Stories … Sonntag früh radelte ich durch den menschenleeren Klarapark in Leipzig. Mein Blick blieb an diesem Banner hängen:
„Teilt Stories, nicht Corona! Nutze deine Reichweite bitte nur noch im Netz, nicht im öffentlichen Leben. Denn womöglich teilst du das Corona-Virus gerade mit deinen Mitmenschen, ohne es zu wissen. Also geh jetzt nach Hause und vermeide sozialen Kontakt. Du rettest Leben!“
Am späten Nachmittag, auf dem Rückweg, spielten Musiker auf der Brücke, junge Leute saßen dicht an dicht, plauderten, tranken, waren fröhlich. Ich schlängelte mich zwischen ihnen durch und war irgendwie ein bischen froh, dass nicht alle nach Hause gegangen waren.