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Beobachtungen ... ohne Kaffee

Lockdown 1 2 0 2 1

Lockdown 1 2 0 2 1 … Foto Doris Behm

Ja, aber

Ja, aber siehst du denn nicht, dass sie hinter Glas stehen, die Räder, und das Versprechen, für uns da zu sein, nichts weiter ist als gedrucktes Blabla? Außerdem habe ich gar kein Geld mehr für Räder (bemerkst du die Preisschilder an den Lenkern?), denn: Die Kultur rollt schon lange nicht mehr.

Es ist eher Zeit

… zum Innehalten. Zeit für ein paar Fragen.

1. Was träumen die Räder hinter den Scheiben?

2. Fühlen sie sich frei, weil niemand im Sattel sitzt?

3. Rollen alle Dinge abwärts, lässt man sie los?

4. Mit welchen Füßen misst man Fortschritt? Reichen Säuglingsfüße?

5. Wie klingt Stillstand?

6. Was kommt ans Licht, wenn man es dreht und wendet?

7. Bist du woanders, nachdem du bewegt worden bist?

8. Wird den Gedanken schwindelig beim Kreisen?

9. Sitzt dein Herz am rechten Fleck?

10. Wenn du für mich da bist: Wo bist du?

(Dagmar Petrick)

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Beobachtungen ... ohne Kaffee

Engel

Engel … Foto Doris Behm

Immer schon

Ach, Kind,

warum musst du immer so misstrauisch sein,

wieso musst du dich immer streiten?

Die Mutter ringt die Hände.

Sie tut es noch heute.

Kommen wir Geschwister zusammen,

bin ich unvermindert die Kleine,

die Jüngste, diejenige,

die alles missversteht.

Wolken schieben sich hinter das Haus,

während ich schreibe.

Eine Sekunde nur

und der Himmel war anders.

(Dagmar Petrick)

Foto Doris Behm
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Sackgasse

Sackgasse … Foto Doris Behm

Abgelegt

Rubbmü – Adjektiv, von Englisch Rubbish und Deutsch Müll mit lautmalerischen Anklängen an Englisch to rub me – rubbel mich bzw. to rub the wrong way jemanden verärgern.

Das durch keinerlei intellektuelle Anstrengung einsichtig zu machende Empfinden, trotz gegenteiliger Bemühungen hartnäckig Opfer fremden Mülls zu werden.

Immer wieder kommt es vor und wir wissen nicht, warum, dass andere ihren Abfall bei uns abladen, immer mehr, immer mehr, bis wir schließlich kapitulieren und ihn entsorgen, obwohl auch der eigene Abfalleimer längst überquillt. Wobei sich jede unfreiwillige Müllbeseitigung anfühlt, als schabte sie ein Stückchen Haut von uns. Abgerubbelt landet es neben der fremden Last und lässt uns blutig und schutzlos zurück.

(Dagmar Petrick)


Burg Arnstein im Hintergrund – mich hat allerdings der metaphorische Blick auf die Müllsäcke am Sackgassen-Schild gefesselt.

(Doris Behm)

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Rot wie die Liebe

Rot, wie die Liebe -
Rot wie die Liebe … Foto Doris Behm

In der Gosse

Weggeworfen. Achtlos. Ich hab mich schon an vielen Kaffeebechern festgehalten. Trennungsgespräche. Belehrungsgespräche. Vorstellungsgespräche. Unsicherheit kompensiert mit dem Griff um etwas Handfestes, an dem ich zugleich nippen konnte.

Jetzt liegt der Becher auf der Straße.

Weggeworfen. Achtlos. Als wäre er Müll. Dabei hat er eine Geschichte zu erzählen. Hat er auch einmal jemanden gewärmt. Das nehme ich jedenfalls an.

Haben sie ihren Zweck erfüllt, wandern die Dinge in den Mülleimer, auf die Straße, in den Rinnstein. Gosse sagte man früher dazu.

Je mehr ich dich ansehe, desto mehr regt sich in mir das Bedürfnis, dich aufzuheben. Denn du bist es wert. Du bist immer noch Wert-Stoff.

(Dagmar Petrick)

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Beobachtungen ... ohne Kaffee

Schöne Aussichten

Schöne Aussichten … Foto Doris Behm

Pfirsiche

Und dann hat er doch tatsächlich, als er nicht mehr wollte, die leere Dose neben die Bank geworfen und ist gegangen, immer fort, immer weiter, bis die Straße aufhörte. Im Nirgendwo.

(Dagmar Petrick)

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Teilt Stories!

Teilt Stories … Foto Doris Behm

Go home -Teil Stories, nicht Corona!

Die ersten Geschichten entstanden im Dunstschein eines Lagerfeuers. Nach der Jagd. Nach dem Beerensammeln. Gemeinsam. Davon bin ich überzeugt. Der Mythos verhandelt die Dinge, die sich nicht begreifen lassen: Sonne, Mond und Sterne, der Wechsel der Jahreszeiten. Ihre in aller unberechenbaren Wandlungsfähigkeit unheimliche Gestaltlosigkeit wird gebannt im Wort, das dem Formlosen Form verleiht. Sprache besänftigt die Dämonen, indem sie sie benennt. Aber auch der Kampf mit dem Säbelzahntiger, die Geburt eines Kindes, Eifersucht, Streit und Freude kamen hier zur Sprache, wurden geteilt. Ich glaube nicht, dass sich unsere Emotionen grundlegend verändert haben durch die Jahrtausende. Sie sind der Urquell allen Erzählens, und alles Erzählen zielt auf Mitteilung und so stelle ich mir vor, wie unsere Vorfahren dicht an dicht beieinander saßen, um erzählend den Mysterien des Seins nachzuspüren.

Schreiben als Kulturtechnik verläuft anders, es ist ein einsames Geschäft und dem mündlichen Erzählen nachgelagert. Doch auch Schreiben zielt auf Teilhabe „Schreiben heißt antworten, ohne gefragt zu sein“, sagte Christian Mocker. Was aber tun, wenn es kein Ohr mehr gibt, das hört?

Der Aufruf, digital zu gehen und die eigene Befindlichkeit überall und jederzeit in die scheinbar grenzenlose Welt des Worldwideweb hinauszuklicken, negiert die Notwendigkeit eines hörenden Ohrs, das empfängt. Wer diesem Aufruf bedingungslos folgt, zieht sich zurück auf den Status des Allwissenden, der ohne Hörer auskommt, eines Senders, der den Empfangenden ignoriert. Wo ein PC, ein Smartphone, geht man flugs viral. Man teilt. Und teilt doch nicht. Denn Teilen hieße, ich gebe ab von dem, was ich habe, und sehe und höre, wie du empfängst, und ich erlebe es mit allen Konsequenzen. Denn auch dem Heiligen Martin wird es schwerer gefallen sein, sich warm zu halten auf seinem hohen Ross, nachdem er seinen Mantel in zwei Teile schnitt. Das heißt allerdings noch lange nicht, dass der Teilende leer ausgeht, man denke nur an jenen wunderlichen Vorfall, von dem die Bibel berichtet, als von fünf geteilten Broten und zwei Fischen am Ende so viel mehr übrigblieb, als anfänglich vorhanden war. Körbe wurden eingesammelt und übervoll nach Hause geschleppt. Die Menschen waren satt, aber auch erfüllt, sie hatten an Einsicht gewonnen: Wo ich befürchte, zu wenig zu haben, dass es nicht für andere langt, erhalte ich durch Teilen mehr.

„Teilt Stories, nicht Corona“ schickt uns zurück in die Häuser noch vor der teilenden Erfahrung, die das Geteilte multipliziert. Es verlangt, dass wir unsere Geschichten in den Winkeln des Privaten suchen und aus der Isolation heraus erzählen, wobei sich zwar per einfachem Mausklick jeder Satz und jedes Bild in Sekundenschnelle unbegrenzt in alle Welt verbreiten lässt. Doch ist geliked noch lange nicht geteilt, und ob wir davon satt werden, bleibt auch fraglich. Denn das Bedürfnis, sich die Mysterien des Lebens erzählend gegenseitig zu erklären, besteht unvermindert fort. Ich jedenfalls suche noch immer in den Gesichtszügen meines Gegenübers eine Reaktion auf Dinge, die ich sage oder schreibe, auch wenn die Zeiten, da uns der flackernden Schein des Lagerfeuers die Empfindungen der anderen auf das Gehörte widerspiegelte, unwiederbringlich vorüber zu sein scheinen.

(Dagmar Petrick)


Teilt Stories … Sonntag früh radelte ich durch den menschenleeren Klarapark in Leipzig. Mein Blick blieb an diesem Banner hängen:

„Teilt Stories, nicht Corona! Nutze deine Reichweite bitte nur noch im Netz, nicht im öffentlichen Leben. Denn womöglich teilst du das Corona-Virus gerade mit deinen Mitmenschen, ohne es zu wissen. Also geh jetzt nach Hause und vermeide sozialen Kontakt. Du rettest Leben!“

Am späten Nachmittag, auf dem Rückweg, spielten Musiker auf der Brücke, junge Leute saßen dicht an dicht, plauderten, tranken, waren fröhlich. Ich schlängelte mich zwischen ihnen durch und war irgendwie ein bischen froh, dass nicht alle nach Hause gegangen waren.

(Doris Behm)

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Das Pfand in meiner Hand

Das Pfand in meiner Hand … Foto Doris Behm

Voll daneben ist auch vorbei

„Aber so war das doch nicht gemeint!“

Insa riss den linken Arm hoch in einer beschwichtigenden Abwehrbewegung, die Hand flach nach vorn gestreckt, als wollte sie Fabian wegdrücken. Oder streicheln. Es kam vermutlich darauf an, von welchem Blickwinkel aus man die Lage betrachtete, welchen Standpunkt man einnahm. Aber wie auch immer Insas Haltung zu deuten war und selbst wenn zutraf, dass sie nichts weiter als den Versuch darstellte, Fabian festzuhalten (was nicht zutraf), war es ohnehin zu spät: Fabian war längst fort. Er hatte sich umgedreht und war gegangen, wutschnaubend gegangen, wobei er wie so oft das letzte Wort behielt. Nicht einmal die winzige Zeitspanne, die es gebraucht hätte, um das Gesagte noch einmal darzulegen, mit anderen Worten, gönnte er ihr. Fabian ließ sie stehen und da stand sie nun. Insa senkte den Arm, der oben in der Luft keinen Zweck mehr erfüllte. Klatschend schlug ihre Hand auf den Oberschenkel, der Arm baumelte sinnlos daneben. Neben ihr, nicht an ihr. Da liegst du voll daneben mit dem Müll, den du redest!, hatte Fabian geschnaubt, als wäre immer sie diejenige, die alles falsch verstand, es in den falschen Hals bekam, wenn sie miteinander redeten. Insa kicherte. Was für eine Redewendung! Als besäßen Menschen zwei Hälse, in die die Worte hineinfielen, wo sie entweder in die eine oder in die andere Richtung rutschten, bei ihr natürlich grundsätzlich in die falsche, wovon Fabian auszugehen schien, womit er freilich selbst am weitesten daneben lag. Zu einem Gespräch gehörten schließlich immer zwei, sogar ein nüchterner Kopf, wie er Fabian auf seinen doppelten Hälsen baumelte, müsste das doch einsehen. Sie hätte es ihm gern gesagt, aber das ging nicht, er war ja bereits fort. Schon klar: Voll daneben ist eben auch vorbei.

Insa fand das verwunderlich, hatte sie doch stets geglaubt, man könne sich verständigen, wenn man es versuchte. Das Allerverwunderliche bestand freilich darin, dass Insa, lange nachdem sie sich von Fabian getrennt hatte und mit Luise zusammenlebte, genau das Gleiche sagen konnte wie einst zu Fabian und Luise es nie in den falschen Hals bekam, weder in den linken noch in den rechten noch sonst wohin. Fragte Insa dann einigermaßen verblüfft, ob Luise nicht dächte, sie läge wieder voll daneben oder redete Müll, wie Fabian es ihr vorgeworfen hatte, bekam Luise diesen unverständig-glasigen Gesichtsausdruck, bei dessen Anblick Insa umgehend begriff, dass sie solche Fragen, die letztlich nur dem Zweifel an ihr selbst entsprangen, künftig getrost bleiben lassen konnte. Denn wenn Luise auch sonst das meiste, wovon Insa sprach, augenblicklich verstand, für diese Art von Fragen – die Luise freilich als Selbstbezichtigungen bezeichnete – fehlte ihr schlichtweg das Verständnis. Du und ich, wir sind in den Worten unterwegs, sagte sie. Wie kannst du sie da für Müll halten, wo sie doch so wertvoll sind?

Das leuchtete Insa ein. Darum verfolgt sie seitdem eine Angewohnheit, weil sie es nicht vergessen will: Sie bringt die Flaschen, die sie leergetrunken hat, nicht zurück in den Laden, wo sie Pfand dafür bekommen könnte. Sie trägt sie in den Park und stellt sie neben die Mülltonnen, damit ein anderer sie findet, jemand, der größeren Nutzen davon hat. Denn eins ist ihr inzwischen klar geworden: Was dem einen als Müll erscheint, ist des anderen Schatz.

Manchmal denkt sie dann an Fabian. Aber nur selten. Und irgendwann vergisst sie ihn ganz.

(Dagmar Petrick)

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Beobachtungen ... ohne Kaffee

Registrieren bitte

Registrieren bitte … Foto Doris Behm

Wein und Corona

Meine Mutter versteckte früher den Eierlikör in der Anrichte. Wenn sie sich alleine wähnte, gönnte sie sich ein Gläschen. Es war eine wilde Zeit. Wir drei Bälger, so dicht hintereinander, als hätte man uns im Abo bestellt, und der Vater, der ständig auf Achse war und wenn er heimkam, doch das Sagen behielt.

Vielleicht hat sich meine Mama auf diese Weise den Mund gestopft?

Und so drückte sie wohl auch uns einen Keks in die Hand, wenn wir traurig waren, uns ein Kummer quälte. Manchmal hören Kinder dann auf zu weinen, auch wenn der Trost nur oberflächlich sein kann.

Trink noch ein Gläschen Wein, sagen sie auch heute zu mir, wenn ich jammere, dass mir Corona das Leben schwer macht. Wenn mich Sorgen, Zweifel und Ängste anspringen wie breughelsche Dämonen, derer ich mich nicht erwehren kann. Sicher, sie meinen es gut mit mir, doch die Wahl der Worte ist verräterisch. Wenn der Diminutiv für eine große Sache angewendet wird, sollte man hellhörig werden; immerhin enthält Wein bis zu 14 % Alkohol.

Ich schenke mir ein.

Ich schenke mir randvoll ein.

Ich liebe Wein.

Ich bin in einer Weinanbaugegend groß geworden und wenn sie dort auch gutes süffiges Bier brauen, das allerorts getrunken wird, bin ich nie zu Hopfen und Malz konvertiert.

In vino veritas, sagt man, und ich suche auf den Grund meines Glases, das kein Gläschen ist, sondern ein Glas, nach dem Tropfen der Wahrheit dieser Coronatage.

Die Wahrheit lautet schlicht, dass ich manchmal am liebsten alles vergessen würde. Dass ich mir Frieden wünsche und ein bisschen Ruhe. Darum trinke ich. Weil Wein den Puls dämpft und die Sinne vernebelt, bis sie nicht länger aufgespannt sind wie Stahlfedern, kein quecksilbriges Vibrieren, sondern eher das Schnurren einer Katze, die sich sanft auf meinem Schoß zusammenrollt.

(Dagmar Petrick)


Als ich mich am 16. September 2020 mit K. zum Essen traf, erfuhr ich, dass dies der letzte Tag ist, an dem ich in Sachsen-Anhalt meine Kontaktdaten im Restaurant hinterlassen musste. Dank dieser Zettel wurde mir bewusst, wie oft ich ein Lokal aufsuchte.

Zweisamkeit … Foto Doris Behm
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Nerven behalten

Nerven behalten … Foto Doris Behm

Keep calm – go digital

Ruhe geben.

Unterm Mund – und Nasenschutz

verpufft

der letzte Hauch

von Nähe.

(Dagmar Petrick)


gelassen bleiben … Foto Doris Behm
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Beobachtungen ... ohne Kaffee

Galgenbergschlucht

Galgenbergschlucht … Foto Doris Behm

„Alles voller Glas“, sagt das kleine Mädchen. „Ja“, sagt die Mutter, „alles voller Glas“ und nimmt den Hund auf den Arm, damit er sich nicht die Pfoten aufschneidet.


Dreißig Jahre Tag der deutschen Einheit

Tag der deutschen Einheit. Der Mond steht über dem Haus, rund und schön. Ich bringe den Müll raus. Immer bringe ich den Müll raus. Nie haben wir damit aufgehört, Müll zu produzieren, endlose Tüten mit Verpackung und Dosen und den ganzen Rest, das ganze unsortierbare Überbleibsel, das sich beharrlich weigert, von Nutzen zu sein, indem es zum Wertstoff konvertiert, weder gelbe Tonne noch blaue fürs Papier, in keinem Fall Bio.

Ich versenke die Tüte in die Tonne, die schwarze, die den ganzen namenlosen nicht einsortierbaren Rest mit einem Happen verschluckt. Danach stehe ich noch lange und sehe, wie der Mond, der meistens nicht rund und schön ist, aber heute schon, hinter den Hausdächern untergeht.

(Dagmar Petrick)